Geschichte der Wolgadeutschen
Приложение к статье: Линдеман Карл Эдуардович

Das Schaffen der Lebenden.

Prof. Dr. Karl Lindemann.

L-ck. Als im Weltkrieg die Zarenregierung die bekannten schweren Ausnahmegesetze gegen die deutschen Kolonisten in der Kriegsfrontzone erließ, fand sich unter den rußlanddeutschen Akademikern einer, der den Mut aufbrachte, hiergegen öffentlich aufs schärfste zu protestieren: der Professor an der Landwirtschaftlichen Akademie zu Petrowsk-Rasumowsk bei Moskau Dr. Karl Lindemann. Der Schwerpunkt seiner Proteste, die selbst von der demokratischen Presse Moskaus und Petersburgs aus Furcht vor der Polizei totgeschwiegen wurden, lag in der wirtschaftlichen Vorbildlichkeit und Bedeutung der drangsalierten Kolonisten. So schwerwiegend, ja so selbstverständlich die von Prof. Lindemann vorgezeichnete, statistisch nachgewiesene Bedeutung dieser Kolonisten war, die Proteste verhallten. Unter den Manuskripten der russischen Redaktionen und den Zuschriften an hohe und höchste Staatsbeamte blieben sie unerledigt liegen. Lindemann ließ seine Überzeugung und seine gerechte Entrüstung aber nicht schweigen: er sammelte die eine überzeugende Sprache sprechenden Materialien in einem Buch, das er als Manuskript drucken ließ, von dem der Schreiber dieser Zeilen seinerzeit auch eines zugesandt erhielt; leider ist es auf meiner Flucht nach Deutschland im Herbst 1921 von den polnischen Behörden beschlagnahmt worden. Jenes Werk Lindemanns (heute schon mehrbändig) ist nicht nur für die Vorgänge in den Kolonien während des Krieges, sondern für die Wirtschaftskraft der Kolonisten im Westen, Süden und Osten Rußlands auch im allgemeinen von größter geschichtlicher Bedeutung. Wird einmal die Geschichte der Deutschen in Rußland seit 1914 geschrieben, so wird der Name Prof. Lindemanns als eines der mutigsten Vorkämpfer für die deutschen Kolonisten mit an der Spitze stehen.

Prof. Lindemann steht heute im 80. Lebensjahr. Aber er ist noch rüstig mitten in der theoretischen und praktischen wissenschaftlichen Arbeit. Seine letzte größere Leistung ist die Bekämpfung der Heuschreckenmassen in der Krim im Jahre 1922; hiermit hatte ihn das Zentralvollzugskomitee der Krim, wo Prof. Lindemann seit 1921 am Landwirtschaftlichen Institut und am Institut für Spezialkulturen tätig ist, beauftragt. Am Landwirtschaftskommissariat der Krim ist Lindemann ausschlaggebender wissenschaftlicher Konsultant.

Prof. Lindemann, der am 26. Oktober 1844 als Sohn eines hochgeachteten Arztes in Nishni-Nowgorod geboren wurde, hat eine vieljährige, reiche und von vielen großen Erfolgen gekrönte wissenschaftliche Arbeitszeit hinter sich. An der Akademie in Petrowsk-Rasumwosk war er seit 1865 tätig; 1870 verlieh sie ihm den Professorentitel. Seine Ausbildung (anfänglich Medizin) erhielt er wie so viele andere rußlanddeutsche Akademiker in Dorpat. Dem speziellen Studium der Schädlinge in Rußland, seinem Spezialfach bis heute, wandte er sich später zu. Lindemann hat eine ganze Reihe bedeutender wissenschaftlicher Werke[1] verfaßt und ist durch seine erfolgreiche Arbeit auch weit außerhalb der Grenzpfähle Rußlands bekannt. Durch die Erforschung des Lebens der Schädlinge in Rußland (besonders der Hessenfliege, der Borken-, Mais-, Tabak- und Kornkäfer) und durch die Ausfindigmachung der Mittel zu ihrer Bekämpfung hat Lindemann sich um das Gedeihen der russischen Landwirtschaft, der Wälder und Gärten die größten Verdienste erworben. Unzählige Gelehrte verdanken ihm ihre Ausbildung, neue Arbeitsmethoden, neue wissenschaftliche Grundlagen. Hier ist von Interesse zu vermerken, daß ein Bruder Lindemanns (Eduard) durch seine 30 jährige Tätigkeit an der Sternwarte zu Pulkowo bei Petersburg weltbekannt geworden ist; ein Sohn Lindemanns ist ebenfalls Professor. Sowohl im Aufträge des zarischen Landwirtschaftsministeriums als auch der Landwirtschastsämter der Sowjetregierung hat Prof. Lindemann große Studien- und Vortragsreisen durch die verschiedensten Gebiete Rußlands gemacht. Die Aufklärung über die Bekämpfung der Schädlinge, die er dadurch auch in weite Bevölkerungskreise getragen hat, ist unschätzbar. Seine letzte große Reise machte der greise Gelehrte 1919–21 durch Dörfer und Städte des russischen Südens und Südostens, wo er überall aufklärend und forschend tätig war.

Über seine Beziehungen zu den Sowjets urteilt die Moskauer deutsche Halbmonatsschrift „Die Arbeit“ in einem Lindemann restlos würdigenden längeren Artikel, dem wir einzelne Daten entnommen haben, u. a. wie folgt: „Zwar verrät seine anfängliche politische Einstellung, soweit sie in der Wahl der Parteizugehörigkeit besteht, daß ihm in politischen Dingen der Scharfsinn, der ihn in seiner Wissenschaft auszeichnete, fehlte. Aber das mag nur dem Einfluß der damals herrschenden Ideologie zuzuschreiben sein. Im Grunde hat das Herz unseres greisen Wissenschaftlers immer für das schaffende Volk geschlagen, dem er speziell seine Forschungsarbeit widmete. Das hat sein unumwundenes Mitarbeiten mit der Sowjetregierung in der Krim gezeigt, besonders im Dienst der Aufklärungsarbeit (seine Lektionen an der kommunistischen Parteischule über Landwirtschaft und Naturwissenschaft, auf Lehrerkursen usw.).“ Man darf in die Diagnose der „Arbeit“ bezüglich des mangelnden politischen Scharfsinns Lindemanns vielleicht einige Zweifel setzen, interessant ist aber zu vermerken, daß in Rußland eine Ära der vollen Würdigung der Wissenschaftler begonnen zu haben scheint. Neuerungen in Sowjetrußland werden verständlicherweise im Ausland noch immer mit größter Vorsicht aufgenommen, sollte die Würdigung der Träger der Wissenschaft aber auf ein neues Gleis gestellt sein, so wäre das nur zu begrüßen.

In diesem Sinne schließen wir unsere Glückwünsche für Prof. Lindemanns Arbeit den Schlußworten der „Arbeit“ an: „Wir wollen von Herzen wünschen, daß unser hochbetagter Forscher noch recht lange seine große Erfahrung dem Bauerntum und unserer Landwirtschaft zugutekommen lassen und in Ruhe seinen Lebensabend verbringen möge. Das, was Karl Eduardowitsch geleistet hat, sichert ihm die liebevolle Anerkennung und Schätzung aller Landwirte und des Staates. Möge die russische entomologische Wissenschaft in den Fußstapfen ihres verdienten Begründers weiterwandeln und endlich uns dem Ziele näherbringen, unsere Landwirtschaft von einer ihrer größten Plagen zu befreien.“


[1] Demnächst erscheint im Zentral-Westverlag in Moskau sein neuestes umfangreiches Werk in deutscher Sprache „Die Getreideschädlinge Rußlands“.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1923, Nr. 24, 1. Beilage, S. 2.