Geschichte der Wolgadeutschen
Приложение к статье: Гютляйн (Гютлейн, Гитлейн) Иосиф Яковлевич

Korrespondenz aus Rohleder (Gouv. Samara)

Nicht eher wollten wir es glauben, dass unser Herr Pfarrer uns verlassen werde, bis von Preiß die Fuhren angekommen waren, um unseren vielgeliebten Seelsorger abzuholen. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich diese Nachricht im Dorfe, aber auch ebenso schnell fuhren Schmerz und Weh in unsere Herzen.  Nur Jammern und Wehklagen konnte man im Dorfe vernehmen.  Manchen traf die Nachricht gerade bei Tisch.  Der Appetit war plötzlich verschwunden, der Löffel hingelegt und hinaus ging es, um mit anderen gemeinsam zu klagen.  „Gibt es denn kein Mittel mehr unsern Pfarrer zurückzuhalten?“ – „Was soll ich nun anfangen mit meinen Waisenkindern?“ und dergleichen Schmerzensrufe mischten sich unter das laute Seufzen und Weinen.  Und nun erst Sonntag während der Abschiedsrede!  „Gott ist mein Zeuge“, sprach unser unvergesslicher Pater, „dass ich euch liebe. Ich muss heute von euch scheiden; muss Abschied nehmen von der Kanzel, von den Altären, vom Beichtstuhle und von allen meinen lieben Pfarrkindern.  18 ½ Jahre bin ich bei euch, und nichts ist mir so schwer vorgekommen als dieses. Höret nun auf die letzte Bitte und Ermahnung eures scheidenden Seelsorgers.  Das erste, was ich euch empfehlen will, ist: Haltet fest an eurem heiligen, katholischen Glauben. Meidet das Böse und tuet das Gute, damit durch gute Werke euer Glaube lebendig sei.  Das zweite: gehorchet Gott und der Kirche, d. h. haltet die Gebote Gottes und der Kirche. Das dritte: Ihr Hausväter und Hausmütter, gehen eurer Familie mit einem guten Beispiel voran. Liebet euch einander. Leget ab alle Feindschaft. Ehret die Priester. Betet, damit eure schöne Kirche nicht lange ohne Geistlichen bleibe.  Und wenn ihr einen bekommt, so erweiset ihm Liebe, Ehrfurcht und Vertrauen, das wird der beste Trost für mich sein, den ich von euch erhalten kann.  Wenn ich nun nicht mehr auf euren Straßen wandeln werde, wenn ihr mich nicht mehr sehet in dieser Kirche das  hl. Messopfer darbringen, so bitte ich doch, im Gebete meiner nicht vergessen zu wollen, ja schenket mir in eurem häuslichen Gebete ein inniges Vaterunser. Und wenn ihr einmal hören werdet, dass ich ins Jenseits hinübergegangen sein werde, dann, dann gedenket meiner armen Seele.  Weder Silber noch Gold habe ich bei euch gesucht; meine Absicht war allezeit, eure Seele in den Himmel zu bringen. Aus böser Absicht habe ich niemand beleidigt, aber ich weiß wohl, dass ich ein schwacher Mensch bin, und sollte es daher doch vorgekommen sein, dass ich jemandem eine Beleidigung zugefügt habe, so bitte ich nachsichtig um Verzeihung.  Ich erachte es für meine Pflicht, euch für eure Liebe zu danken und versichere euch, dass solange mein Herz schlagen wird, solange wird es euch auch lieben.  Jetzt empfehle ich euch dem Dreieinigen Gott Vater, Sohn und Hl. Geist, der lieben Mutter Gottes, den  hl. Engeln, eurem Kirchenpatrone, dem  hl. Antonius v. Padua, und allen Heiligen. Amen.“

   Wahrhaft herzzerreißend wurde die Abfahrt unseres teuersten Vaters. Nach erteiltem Segen bestieg er den Wagen und fuhr langsam durch die große Volksmenge zum Dorfe hinaus. Alle begleiteten ihn, keine Seele blieb zurück. Vor dem Dorfe wollte ein jeder nochmals die gesegnete Hand seines lieben Vaters küssen.  Dabei wurde das Gedränge so groß, dass der herzinnig geliebte Seelsorger – o wüsste ich doch noch bessere Ausdrücke! – einen Ohnmacht nahe war, und um der Lebensgefahr zu entgehen, musste man geradezu mit Gewalt den Weg bahnen. Die Kinder ließen es sich aber nicht nehmen. Sie sprangen dem davonrollenden Wagen soweit nach, bis sie nicht mehr konnten.  Lebe wohl, Du guter Seelenhirt!  Gott vergelte es Dir, was Du an uns getan hast.  Lebe wohl!

                                                                                              G.


Klemens, Nr. 35 vom 27. Mai 1898, S. 538-539.