Geschichte der Wolgadeutschen
Приложение к статье: Бухольц Леон Карлович

Kleinere Mittheilungen.


II.

Mittheilung aus der Klinik der Ärzte L. Bucholtz und A. Grasmück in Saratoff. Von Dr. L. Bucholtz.

In Bezug auf die Tabes dorsalis haben wir ebenso wie andere in den deutschen Wolgakolonien der Wiesenseite praktizierende Kollegen die interessante Tatsache feststellen können, dass diese Krankheit zu den großen Seltenheiten gehört. Ganz anders verhält es sich in den Ostseeprovinzen, meiner eigentlichen Heimat. Bekanntlich halten viele Ärzte noch immer an dem Zusammenhang zwischen Tabes und Syphilis fest. Besteht diese Anschauung zu recht, dann ist unsere Beobachtung, dass unter den deutschen Kolonisten die Lucs kolossal verbreitet ist, Tabes dagegen fast niemals vorkommt, durchaus befremdend. Zwecks Bekämpfung der Syphilis erachtete es das rote Kreuz für notwendig, in den Jahren 1895 und 1896 eine Kolonne von Ärzten in die betreffenden Provinzen zu entsenden. Sehr drastisch drückte sich mir gegenüber ein viele Jahre daselbst tätiger Landschaftsfeldscheerer aus: »Um die Syphilis auszurotten, müssten von Nikolajewsk (der benachbarten Kreisstadt) täglich zwei mit Hg und Jod beladene Kamelle unterwegs sein«. Im allgemeinen kann behauptet werden, dass bis vor einigen Jahren die Syphilitischen in den gesamten Gegenden entweder gar nicht oder nur ungenügend (intern) mit Hg behandelt wurden. Aber obwohl ich selbst Hunderte von Luetischen im Laufe von sieben Jahren behandelte, sind mir nur vier Tabiker, davon kein einziger Bettlägeriger, zu Gesicht gekommen. Bemerkenswert ist ferner, dass bei einigen unserer Studiengenossen, welche in unseren Provinzen leben, während ihrer Studienzeit vor ca. 10 Jahren die Tabes zum Ausbruch kam und sich seither die Symptome nicht verschlimmert haben. Die Ursache hierfür dürften jedenfalls klimatische Verhältnisse sein. Wir haben ein sehr trockenes Klima, warmes Frühjahr und Herbst, sehr heißen Sommer und kalten Winter. Die Übergänge vom Winter zur warmen Jahreszeit und umgekehrt erfolgen in kürzester Zeit, zuweilen in einigen Tagen. Ein Frühjahr mit langdauernder Schneeschmelze, ein Herbst mit dem ewigen Regen wie in den Ostseeprovinzen Russlands, ist uns unbekannt. Interessant wäre bei der Frage nach der Ursache der Tabes festzustellen, inwieweit physische Überanstrengungen körperlich geschwächter Individuen, zu denen ja auch der Syphilitische (durch die Krankheit an sich, wie durch die Hg-Kuren) zu rechnen ist, unter ungünstigen klimatischen Verhältnissen, id est namentlich feuchter Kälte eine Rolle spielen. Nicht unwichtig in dieser Beziehung ist die Äußerung des Kollegen A. Katterfeld aus Irmlau in Kurland, dass jeder fünfte oder sechste seiner Patienten, welche sich aus der seefahrenden Strandbevölkerung zusammensetzen, Tabiker sei. Jedenfalls würde ich jedem Tabiker, sofern es nur die Verhältnisse gestatten, den Rat geben, in ein trocken-warmes südliches Klima dauernd überzusiedeln und, sofern er arbeitsfähig ist, sich daselbst einen Erwerbszweig zu suchen.


Zeitschrift für diätische und physikalische Therapie. Redigirt von E. v. Leyden
und A. Goldscheider. 5. Band. – Leipzig: Verlag von Georg Thieme, 1901/2, S. 530-531.