Geschichte der Wolgadeutschen
Приложение к статье: Цорн Иоганнес

Johannes Zorn †

Ihn von hier aus, weit von seinem Wirkungskreis, dazu nach langer Trennung erschöpfend würdigen wollen, wäre ein Unterfangen, wüßten wir nicht, daß er seinem Lebensideal und den Kolonien und sich selbst treu geblieben ist, alle die schweren Jahre hindurch. Das unerbittlich nüchterne Leben hat ihm die Erfüllung seines höchsten Arbeitszieles, das in vollkommener Dorfkultur gipfelte, vorenthalten. Dieser milde bärtige Johannes Zorn war eigentlich ein Verkannter. Die Alten und Neuen, die seine Lebensarbeit hätten stützen können und sollen, taten es nicht; er war ihnen zu wenig und zu gering. Wer es aber gewollt hat, vermochte es nicht. Das, soweit es um die praktische Förderung ging. Er hat mehr Achselzucken gesehen als andere Idealisten. Und wenn er auch sonst von den Gewaltigen übersehen wurde, zum Leuchtturm unser Dorfkultur ist er doch geworden. Er war der Erste und zugleich Einsamste auf diesem Feld. Das Licht seiner Ideale drang jedoch in das entlegenste Steppendorf. Vielleicht führten die Wege zur Dorfkultur, die er wies, zu steil in die Höhe, vielleicht wollte er zuviel auf einmal, aber er wollte es gläubigen Eifers und von ganzem Herzen. Sein ganzes Leben galt seinem Ideal. Mehr war ihm in der Nacht unsrer Unglücke nicht vergönnt.

Was er dennoch geleistet hat, zeigen sein Fleiß und seine Arbeit. Viele Jahre lang hat er nach der Ameise Art Erkenntnis, Kenntnis und Vorbilder zusammengetragen. Er nahm es nicht so mit, wie man es von ungefähr auf Spazierwegen findet. Er ging eigens zur Selbstbelehrung in die Welt, wanderte kreuz und quer durchs deutsche Stammland, um zu suchen, was ihm, dem etwas seltsam Vereinsamten auf der Höhe, für die Hebung unserer bäuerlichen Wirtschaft und unserer Dorfkultur notwendig, vorbildlich und lebenswichtig erschien. Das hat er dann in Broschüren, Artikeln, Flugblättern, Bildern und Manuskripten niedergelegt, hat dies alles als Mahner und Wegweiser in den Bauernhäusern verbreitet, bangte immer innerlich erregt um das Wohlergehen und den Aufstieg seiner Wolgaheimat, war ein Landwirtschaftsgenossenschaftler durch und durch und ist darüber von Sorge, Krankheit und von Schmerz über seine Verkennung verzehrt worden. Zu spät hat man ihn aufrichten wollen, hat ihn erst im letzten Winter zur Heilung in die Krim gebracht. Dort ist er seinem schweren Lungenübel einsam erlegen.

Als die Idee seines Lebenswirkens hätte beginnen können, sich im Bauernhaus praktisch auszuwirken, brachen über unsere Kolonien die tausend Unglücke herein. So hat sein Ziel nur Ziel, nur Theorie bleiben können, und auch deshalb noch, weil die eigenen Propheten im Lande ja nichts gelten. Wäre er nicht der unerschöpfliche Born kräftigster lichtester Energie gewesen, hätte er sich nicht restlos immer und überall für den objektiven Wert seiner Sache eingesetzt, ja, hätte er nicht nachgerade beteuert und vergewissert — auch das mußte er tun!.. wie wohltätig die Kultur im Dorf ist, sein Staub müßte verwehen, ohne daß wir seinen Geist kennen. So scheint denn das Fazit seines Lebens nichtig und gering, daß er nach langjähriger Mühe nur dies eine erreicht hat: der Wolgadeutsche Bauer weiß, wie seine Wirtschaft nicht sein soll, und noch: ihn ist die Luft zur Neugestaltung und zur Nachfolge Zorns angekommen. Wer unsere harten und widerstrebenden Verhältnisse kennt, der weiß, daß das Leben eines Mannes wie Zorns hat daraufgehen müssen. Aber er hätte mehr zu erzielen verdient. Die Schuld, daß es nicht so gekommen ist, trägt die Verkennung seines Werkes in seiner Blütezeit. Später dann hat man ihn verhungern und sterben lassen. Denn Zorn ist nicht allein von der Schwindsucht verzehrt worden. Auch vom Hunger. Als ich ihn zuletzt vor zwei Jahren in Katharinenstadt sah, war er schon gebrochen. Und doch arbeitete er in Orlowskoje, seinem Heimatdorf, die Rächte hindurch, schrieb und projektierte und legte sich erst völlig zerschlagen auf die dünne Strohmatte zur Ruhe nieder, neben seinen Bücherstapel und die Manuskripte in seinem Zimmerchen, das ihm eine geizende Wohnungspolitik übrig gelassen hatte. Und während er nun in der Krim im Sterben lag, trug seine Frau in Moskau noch Ungedrucktes von ihm von Pontius zu Pilatus, die aber — wie auch die anderen vor ihnen — die Achseln zuckten: es sei nicht zu gebrauchen. Dabei ist seine Lebensarbeit von höchstem Wert und jedes seiner Worte, jede seine Bewegung galt dem Volk.

Stürbe auch der Geist des Menschen, müßte man verzweifeln.

G. S. Löbsack.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1923, Nr. 10, S. 1.