Geschichte der Wolgadeutschen
Приложение к статье: Лёбзак (Лебсак) Георг Самуил

Einsam kämpft das Wolgaland

Einsam kämpft das Wolgaland. Ein Bericht aus 7 Jahren Krieg und Revolution von Georg Löbsack. Mit 6 Bildern und 3 Karten. 1936. R. Voigtländer’s Verlag, Leipzig. Leinen 4,50 RM.

Es ist im Lauf der letzten Jahre in der deutschen Presse viel mehr von der Deutschen Wolga-Republik, ihren Wirtschaftsmöglichkeiten, dem furchtbaren Hungerelend, ihrer Anpassung an den Bolschewismus und ihrer vermuteten Eigenständigkeit, der Bedrückung der Wolga-bauern und ihren Fluchtversuchen — von äußerem Geschehen — die Rede gewesen als vom Wolgadeutschen. Wer in Deutschland kennt diesen deutschen Ostmenschen, wie er in fünf Generationen seit der Einwanderung 1765 aus der Zusammenschmelzung der Abkömmlinge verschiedener deutscher Stämme in den Steppen der Wolga geworden ist? Im Buch: „Einsam kämpft das Wolgaland“ gibt uns ein Wolgadeutscher in einer Tiefe, die bisher nie erreicht wurde, Einblicke in das Werden und Wesen, in das eigenartige und daher einzigartige Seelenleben dieses deutschen Stammes. Das Buch ist wertvoll, weil es die sieben Jahre der Kriegs- und Revolutionskatastrophen  des einsam kämpfenden Wolgalandes schildert, wie das nur ein Mitkämpfer so lebendig zu gestalten vermag. Aber noch weit wertvoller ist das Buch dadurch, daß es von einem Dichter geschrieben ist, der die Seele seines Volkes erkannt hat und dieses Volk in seinem einstigen Glück und Reichtum und in der Tragik von Not, Verderben und Tod mit Innigkeit liebt. Daher ist dieses Buch von einem nicht nachzuahmenden Zauber erfüllt: Die Wolga rauscht in ihm, die unermeßlichen Weiten der russischen Steppen dehnen sich in ihm. Der dem Westeuropäer unbekannte Duft des Ostens schlägt uns entgegen.

Wenn Löbsack in wenig Worten die Kolonistenkultur der baltischen gegen- überstellt, merkt jeder Wissende, welch tiefes seelisches Erfassen des Ostdeutschen in seinen verschiedenen Abwandlungen hier vorliegt. Er schreibt: „Die deutsch-baltische Kultur war die Kultur des überalterten Adels und des etwas hoffärtigen städtischen Bürgertums. Die kolonistische  Kultur war zum Teil noch altdeutsch und schlicht, zum Teil schon russisch und anspruchsvoll, ungelenk, rauh, noch jung, aber doch schon angekränkelt von Zweifeln, ob denn die kolonistische Zukunft an der Wolga und am Schwarzen Meer liege. Gefangen im Bann der russischen Kultur, war sie der Deutschlands weltenfern, ohne selbst schon das zu sein, was schlechthin Geisteskultur heißt. Es war Beginn. Nicht mehr.“

Mit Recht sagt daher Adolf Eichler vom Werk Löbsacks, des alten treuen Mitarbeiters der „Deutschen Post aus dem Osten“: „Dieses lebenswahre Buch kann als eine Sendung der Wolgadeutschen an Mutterland und Stammvolk gewertet werden.“ Löbsack ist einer der wenigen Deutschen des vom Mutterlande abgeschnittenen Wolgadeutschtums, der dem deutschen Volk singen und sagen kann von diesen heute einsamer denn je kämpfenden deutschen Menschen. Es ist ein Buch des Rußlanddeutschtums für das ganze deutsche Volk.

C. v. K. [Carlo von Kügelgen]

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Wir geben als Probe des geistigen Schaffens Georg Löbsacks den Beginn seiner Darstellung.

„Im Sommer 1914 vollendeten sich 150 Jahre der deutschen Wolgakolonisation. Unserer Vorfahren Heimat in der Pfalz und in Hessen war durch den Siebenjährigen Krieg der Deutschen gegeneinander verheert worden. 150 Jahre später begannen für ihre Nachfahren, für uns, neue sieben Kriegsjahre, die des Welt- und des russischen Bürgerkrieges. Und wiederum: Deutsche gegen Deutsche.

Die Jahre von 1914 bis 1921 bilden in unserer Siedlungsgeschichte eine eigene Zeitspanne letzten volklichen Kräfteaufgebots zur Selbsterhaltung und Selbstbehauptung. Sie umfassen die letzten Jahre des Zarismus und die ersten des Bolschewismus. Sie beginnen mit dem Kriegsdienstzwang gegen Deutschland und enden in der grauenvollsten Hungersnot unserer Geschichte. Und wiederum: die Heimat verheert.

Diese Aufzeichnungen sind aus dem Pflichtgefühl entstanden, Rechenschaft und Zeugnis dafür abzulegen, wie sich das Wolgadeutschtums in jenen sieben Jahren bis zur Verzweiflung um sein Leben schlug. Wenn heute von der Wolga gesprochen wird, klingt immer wieder nur das Lied vom Untergang eines starken Volkstums auf. Und wer ist nicht erschüttert von dem Schrei jener Mutter: ,Ich habe ja so großen Hunger, daß ich möchte mein Kind anbeißen; aber man hat noch einen Gott!‘

Jedoch dem Sterben gingen sieben Jahre todesmutiger Erhebung unseres Volksgeistes voraus. 1914 verweigerten Wolgadeutsche Reservisten den Kriegsdienst gegen Deutschland. 1921 fand der letzte Bauernaufstand vor der Hungerpest statt. Dann fielen in zwei Jahren 100 000 Wolgadeutsche dem Hunger zum Opfer Nur wenn man die Zeit und ihre Kampftragik  vor diesem Volkssterben kennt, erfaßt man das ganze Grauen des heute drohenden völligen  Untergangs.

Aber ich weiß, daß jeder nur von der Stelle aus über die Geschehnisse jener sieben Kampfjahre berichten kann, auf der er gestanden hat. Meine Generation mußte den Weltkrieg gegen Deutschland, gerade mannbar geworden, im russischen Soldatenmantel ertragen. Von diesem unfreiwilligen Landsknechtsdienst her auch sahen wir unseren Volkskampf, mitten drinstehend, zuerst unterm Zarenadler, dann unter dem Roten Stern. Von hier aus auch erkannten wir, daß dieser Kampf nie und nimmer mit unserer Generation abschließen wird. Solange das Wolgadeutschtum atmet, wird es auch einen Wolgadeutschen Heimatkampf geben, es sei denn, eine neue Macht in Rußland erspare ihn uns.

Die Größe dieses Kampfes wurzelt aber nicht nur im bolschewikischen Pferch. Sie erwuchs aus unserer nun schon über 170jährigen Siedlungsgeschichte und reicht über die Weltmeere.

Wir sind insgesamt kaum eine Million Menschen und doch hingestreut über Asien, Europa und Amerika. Ist dieser zerstückelten Winzigkeit noch ein gemeinsamer Lebenssinn zu eigen? Ist unser Volksschicksal nur eine Versprengtheit ohne Sinn? Wir alle sind nach vielen Seiten hin gebunden. Sie reißen uns auseinander. Alle Teile unseres Ganzen kämpfen auf Einzelposten. Jeder von uns ist ein Einzelposten. Das ganze Wolgadeutschtum ist ein Einzelposten.

Was aber hält uns zusammen? Wo wirkt der Urkern unseres Ganzen? Wem dient dieses Ganze? Unser Urkern ist unser deutsches Volkstum und unser deutsches Volksgewissen. Wer sich von ihnen mit einer Aufgabe betraut weiß, der gehört zum Ganzen.

Aber dieses Wolgadeutsche Volksganze ist nur ein geringer Teil des deutschen Weltvolkes. Seine Tragik, ununterbrochen während seit 1914, zwingt zum Kampf auf einsamem Einzelposten. Und der Sinn dieser Lebenstragik ist nicht vom Wolgaboden allein her zu erfassen. Er Ist auch nicht von Deutschland und Amerika allein her zu begreifen. Erst das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Teile des deutschen Weltvolkes reicht an den Sinn des Lebens und Sterbens des einzelnen Teiles wie des ganzen Weltvolkes heran. Es ist die ewige Wiedergeburt des Volkes. Wollen wir an diesem Schicksalssinn mitwirken, dann heißt es praktisch: Heimat-Erschaffen in der Welt durch Einzelposten für das Ganze und durch das Ganze für den Einzelposten . . .

Die Sagen und Märchen, die Lieder und Legenden des Wolgadeutschtums zu sammeln, darin seinen steppendeutschen Lebens- und Kulturwillen zu erkennen und an seiner Gestaltung mitzuwirken, hatte ich in der Jugend als meine Lebensaufgabe ausersehen. Ein politischer Soldatendienst für die Wolgaheimat ist daraus geworden. Jedoch nicht wir Überlebenden  trugen die Dornenkrone. Unsere Toten trugen sie.

Für die Überlebenden aber heißt die Lehre jener sieben Jahre für alle Zeit: Selbstbestimmung des Wolgadeutschen Volkstums gegen den Untergang. Wir glauben an das Ziel, weil wir an die Überwindung des Bolschewismus glauben — und an den Urkern unseres Volkstums. Solange dieser Urkern nicht stirbt, triumphiert der Bolschewismus nicht über unser Volkstum.“


Deutsche Post aus dem Osten, Nr. 2 vom Juni 1936, S. 8-9.