Geschichte der Wolgadeutschen

ÜBERSEEISCHE AUSWANDERUNGEN. Die Auswanderungsgründe der Ruß­landdeutschen nach Übersee waren zum Teil mit denen identisch, die Deutsche ab 1763 veranlaßten, nach Rußland auszu­wandern, nämlich wirtschaftlicher, poli­tischer, religiöser und persönlicher Natur. Zunahme von Landmangel und Boden­preisen (1912/14 auf 5-600 Rubel je Desjatine), Einschränkung und Aufhebung der Privilegien (Russifizierung) und der sich ausbreitende Deutschenhaß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und besonders nach der Gründung des Deut­schen Reiches von 1871 waren die Ursa­chen für eine einsetzende Auswande­rungswelle nach Übersee, Nord- und Süd­amerika. Auf der anderen Seite gab es günstige Einwanderungsbedingungen in den USA, Kanada, Südamerika (Argen­tinien und Brasilien). So verfügte die ka­nadische Regierung per Gesetz von 1872, daß jeder Einwanderer gegen Bezahlung von 10 Dollar sich Land zuweisen lassen konnte („Heimstätte" = 64 ha), das nach 3 Jahren sein Eigentum wurde, wenn er es bebaute und für Unterkunft und Um­zäunung sorgte. In den USA wurde 1862 das Heimstättengesetz verabschiedet, das den Siedlern große Freiheiten und Rech­te zusicherte, außerdem benötigten die Eisenbahngesellschaften viele Arbeits­kräfte und Bauern für das Hinterland. Ähnlich günstige Ansiedlungsbedingungen gab es in Brasilien und Argentinien. Besonders durch den Erlaß des Zaren vom 4. Juni 1871 wurde die allgemeine Wehr­pflicht für Mennoniten im Sanitäts­dienst, nicht wie ursprünglich zugesichert, um 24 Jahre, sondern nur um 10 Jahre hin­ausgeschoben. Ab diesem Zeitpunkt und dem Beginn der Russifizierung began­nen sich die Kolonisten für die Auswan­derung nach Nordamerika zu interessie­ren. Zuerst wichen zahlreiche Koloni­sten nach Sibirien aus, wo genügend Land zur Verfügung stand und die Gesetze des Zaren nicht so wörtlich genommen wur­den. Später aber rückte Amerika in den Mittelpunkt des Interesses. So wurden Kontakte zum amerikanischen Konsul J. Zohrab aufgenommen. In den USA und in Kanada gab es zu dieser Zeit noch viel Siedlerland. Im Sommer gingen Mennoniten auf Erkundungsreise. Sie besuch­ten mehrere Weststaaten der USA. Im Er­gebnis dieser Reise trafen im Sommer 1872 auch die ersten Familien aus Johan­nestal, Worms, Rohrbach u. a. in den USA ein. Diesem Beispiel folgten später viele. Insgesamt sind bis 1912 rund 300.000 Deutsche aus Rußland nach Nord- und Südamerika ausgewandert. Eine neue Emigrationswelle setzte nach dem Frie­den von Brest-Litowsk von 1918 ein. Eine weitere Welle folgte mit der Entkulakisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft Ende der 20er Jahre. Der Reiseweg ging über die Mandschurei, das Chinesische Meer, den Indischen Ozean, Europa und schließlich den Atlantik. 1940 lebten in den USA schätzungswei­se 350.000 bis 400.000, in Kanada 200.000, Mexiko 30.000, Brasilien 250.000, Argentinien 200.000, Paraguay 4.500 und Uruguay 2.500 Deutsche aus Rußland. Dazu gehören auch die in den 20er Jahren nach Übersee ausgewanderten etwa 150.000 bis 200.000 Ruß­landdeutschen.

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