Geschichte der Wolgadeutschen
Приложение к статье: Цорн Иоганнес

Johannes Zorn †

Aus Saratow kommt die Kunde, daß Johannes Zorn nicht mehr ist. In Jalta in der Krim, wo er Heilung von einer schweren Krankheit suchte, ist er gestorben, fern von der Heimat, die er so unaussprechlich liebte und für die er sein Bestes zu geben stets bereit war, fern aber auch vom alten Vaterlande, Deutschland, das er wie wenige Wolgakolonisten kannte, und an dem er mit einer innigen Liebe hing, um so fester, je schwerer die Zeiten wurden.

Sein Leben war einem Ziel gewidmet, das er in allen Jahren nie aus den Augen verloren hat. Die Kultur deutscher Dörfer und Städte, die er durch lange Reisen kennen gelernt, die Fortschritte der Landwirtschaft, die er auf deutschen Bauernhöfen mit heißem Bemühen studiert hatte, sie sollte seiner Heimat, den Wolgakolonien, zugutekommen, sie mußte aus ihnen ein neues Kulturzentrum größten Wohlstandes, voll zufriedener Menschen fern von dem alten Vaterlande schaffen, mit ihm verbunden durch die gemeinsame Durchführung gleicher Ideen.

Alle seine Schriften waren von diesem Gedanken getragen, der die große Linie seines ganzen Lebens bildete. So wurde er der ewige Mahner, wie er sich selbst einmal nennt. Ich werde meine einzige Begegnung mit ihm nie vergessen. Aus einer Fahrt durch Rußlands unendliche Steppen hatte ich seine erste Schrift aus dem Jahre 1917 nach der ersten russischen Revolution, die den Deutschen die kulturelle Selbstbestimmung wiedergegeben hatte, gelesen, ein Hohe Lied auf deutsches Wesen und deutschen Wert, getragen von dem sehnsüchtigen Wunsche, auch diese Inseln des Deutschtums im fernen Lande, wie seine Wolgaheimat sie darstellt, nicht zu Grunde gehen zu lassen, da auch sie noch Wertvolles zu geben und zu spenden haben. Ich sagte mir, daß ich jenen Mann, dem das Herz so warm schlug fürs deutsche Vaterland, kennen lernen mußte. Und wenige Tage später war ich bei ihm in Kosackenstadt, am gastlichen Tisch bewirtet, bei ihm, dem schon der Tod auf der Stirne geschrieben stand, und der mir nun erzählte von seinem Lebenswerk, das durch die Verhältnisse vernichtet sei. Und doch — zwar war es ihm nicht vergönnt, die Zeit herausdämmern zu sehen, die er seiner Heimat bereiten wollte, wo deutsche Wirtschaftsart und deutscher Kulturfortschritt seinen Einzug in -die Kolonien an der Wolga hielt. Von ihm sind wir weiter entfernt, wie vor dem Kriege. Die Ereignisse der letzten Jahre haben jenes Gebiet, eine Kornkammer russischen Landes, ein Vorbild deutschen Fleißes, der unter schwierigsten Verhältnissen — schwieriger, wie überall anders, vor allem wie in Südrußland — Ungeheures geleistet hat und entschieden im Fortschreiten begriffen war, wirtschaftlich vernichtet, das immer regere Leben erstickt. — Vernichtet? Erstickt? — Nicht doch — auf den Trümmern entsteht neue Bewegung; der deutsche Kolonist ist nicht zu bezwingen durch die Macht der Verhältnisse, durch noch so widrige Umstände, er ringt sich wieder durch.

Und über diesem Trümmerhaufen weht der Geist von Johannes Zorn, wie ein Mahner, ein Wegweiser zu dem, was die Kolonien einmal werden können und werden müssen, zum Segen der alten und der neuen Heimat, Deutschland und Rußland, die vielleicht ein gnädigeres Geschick Seite an Seite zu neuem Aufstieg führt. Und dann wird auch sein Name einst unter denen genannt werden, die die ersten Bausteine zu diesem Werke herbeigeschafft haben.

Aber noch eins: Allen Wolgadeutschen hat er ein teures Vermächtnis hinterlassen, ein Werk, an dem er bis zu seinem letzten Atemzuge gearbeitet hat und das so gut wie fertig vor uns liegt: eine Schilderung der Sitten in seiner Heimat, beobachtet aus dem Leben im Dorf. Es stellt einen der wertvollsten Beiträge zur Kulturgeschichte des Wolgadeutschtums dar und zeigt auch wieder so klar, wie eng die geistigen Verbindungen zum asten Vaterlande geblieben sind, mögen auch die äußeren Bande getrennt gewesen sein. Das feste Hasten an gemeinsamer Tradition hat in Sprache und Sitte, Lebensauffassung und Wesensart eine Gleichartigkeit geschaffen, die den Besucher aus Deutschland an der Wolga plötzlich eine Heimat finden läßt, und Männer wie Zorn, die in Deutschland wie in ihrer eigentlichen Heimat in gleicher Weise zu Hause waren, sind der lebendige Beweis dafür.

Mögen sein Wunsch und seine Gedanken denen voranleuchten, die den Wiederaufbau in den Kolonien in die Hand nehmen und durchführen werden, der Jugend, an die er seine begeisternden Worte richtet. Dann wird das Werk hervorgehen aus den Ruinen der Gegenwart im Neubau der Zukunft, vielleicht anders, als er es. sich gedacht, aber getragen von seiner Grundidee: Wiedererstehen deutschen Wesens am fernen Wolgastrand.

Dr. Otto Fischer.


Wolgadeutsche Monatshefte, Berlin, 1923, S. 135.