Geschichte der Wolgadeutschen
Приложение к статье: Брунгардт Вильгельм Бальтазарович

In memoriam Wilhelm Brungardt

Unerwartet starb am 20. November in Nowosibirsk Wilhelm Brungardt, der Verfasser des Romans "Sebastian Bauer".

W. Brungardt wurde 1908 an der Wolga im Dorf Herzog in der Familie eines Dorfschreibers geboren. Herzog war, von Osten nach Westen gelegen, das dritte Dorf nach Louis und Mariental von den in den Jahren 1766/67 in der Steppe am Fluß Karaman gegründeten Mutterkolonien. Wilhelm Brungardt verbrachte seine Kinder- und Jugendjahre im Vaterhaus. Der Vater, ein weitgereister Mann, gehörte zur Dorfintelligenz. Herzog war zu jener Zeit ein schönes deutsches Dorf mit hoher Kultur. Unter den Einwohnern des Dorfes gab es urwüchsige, begabte Menschen, die sich durch Selbstbelehrung Wissen auf geistigen Gebieten wie Geschichte, Musik und Literatur angeeignet hatten und andere Menschen belehrten. Hier wirkte als Ortsgeistlicher Gottlieb Beratz, der Verfasser des Buches. Die deutschen Kolonien an der Wolga und ihre Entstehung und Entwicklung". Brungardts Vater gehörte zu diesen Kreisen.

Wilhelm nahm alles gierig auf, was seine Ohren hörten und seine Augen sahen. In seinem Heimatdorf und in den Nachbarsdörfern Mariental und Louis hatte sich mit der Zeit eine reiche Folklore seit der Ansiedlung entfaltet und wurde, von den Einwohnern durch überlieferung noch mehr umflochten. Bis der junge Mann seinen eigenen Lebensweg betrat, hatte die Zeit große politische und soziale Ereignisse mit Erschütterungen heraufbeschworen: Erster Weltkrieg, Revolution 1917, Bürgerkrieg und Hungersnot anfangs der 20er Jahre, Kollektivierung der Bauernwirtschaften und Repressalien durch das Totalregime in den 30er Jahren, Großer Vaterländischer Krieg und Obersiedlung nach Sibirien, Arbeitsarmee von 1941 bis 1947 sind die Wegstrecken, die Wilhelm Brungardt zurücklegen mußte. Mit großer Mühe gelang es ihm, pädagogische Mittelschulbildung zu erhalten und den Lehrerberuf auszuüben. In Sibirien war Brungardt genötigt, Buchhalter zu werden. Er hatte eine Familie gegründet und erzog mit seiner treuen Ehegattin Frieda zwei Söhne und eine Tochter.

Von der Jugendzeit an zeigte Wilhelm Brungardt großes Interesse für die Geschichte seiner engeren Heimat. Der Verfasser dieser Zeilen traf mit Brungardt im schweren Hungerjahr 1921 zusammen. Wenn ich heute an jene Jahre zurückdenke, scheint es mir, als ob dem Jungen schon damals im Unterbewußtsein "Sebastian Bauer" vorschwebte. Weltgeschichte, Geschichte des Altertums, Geschichte Rußlands und gar die Geschichte der Wolgadeutschen waren seine Lieblingsfächer in der Schule. Während seiner literarischen Tätigkeit kamen wir mit ihm oft auf Geschichtsthemen zu sprechen, und ich mußte mich immer wundem, mit welcher Genauigkeit er dieses oder jenes geschichtliche Ereignie zu deuten wußte. Sein Lieblingsschriftsteller war Alexander Dumas. W. Brungardt hatte seinen eigener Arbeitsstil. Er schrieb die Kapitel seines Romans mit der Hand durch Kohlepapier in zwei Exemplaren ohne Korrektur, ohne an Sprache oder Stil zu schleifen oder zu feilen. Das Fabulieren lies wie am Schnürchen. Brungardt meinte, bei Korrekturen und änderungen verliere er den Faden der Handlungen. In den schlimmen Zeiten seines Lebens war es ihm nicht vergönnt, eine gediegene Sprachschulung zu erlangen. Das hatte sich hemmend auf sein literarisches Schaffen ausgewirkt.

Nach "Sebastian Bauer" folgten noch drei Romane, die die Geschichte der Wolgadeutschen behandeln und als Fortsetzung des ersten Romans gelten sollten. Leider blieben diese Schriftstücke unveröffentlicht. W. Brungardt gab Herz und Seele seinem Volke hin. Er schrieb bis zu seinem Lebensende. Mit seelischer Bedrücktheit über das tragische Schicksal seiner Volksgenossen mußte er aus dem Leben scheiden. Wir trauern um den Tod des lieben Freundes. Den Hinterbliebenen sprechen wir unsere tiefe Anteilnahme und inniges Beileid aus.

Peter HERMANN
Nowosibirsk

Neues Leben, 09.01.1991