Geschichte der Wolgadeutschen
Приложение к статье: Пильняк Борис Андреевич

Russisch

Wolgadeutsche Spuren im Leben und Werk
des Schriftstellers Boris Pil'njak

Boris Pil’njak (1894-1938) ist seit seinem Roman „Das nackte Jahr“ (1922) als einer der bedeutendsten Vertreter der russischen literarischen Avantgarde weltbekannt. Die genauen Umstände seiner Inhaftierung und Erschießung in der Zeit des großen Terrors sind jedoch – ebenso wie andere biographische Aspekte – erst im Zuge der Öffnung von Archiven bekannt geworden. Weitgehend unberücksichtigt hingegen blieben bis heute seine wolgadeutsche Herkunft (väterlicherseits) und die zeitlebens aufrecht erhaltenen Kontakte zum Wolgagebiet.

„Mein richtiger Name ist Wogau“, konstatiert der Schriftsteller in einer autobiographischen Anmerkung aus dem Jahr 1928. Zu seinen Lebensdaten befragt, thematisiert er auch in anderen Zusammenhängen immer wieder selbstsicher seine wolgadeutsche Abstammung: „Ich, Boris Pil’njak, stamme von der Wolga. Mein Vater, ein wolgadeutscher Kolonist aus der Nähe von Saratow, ist Veterinärarzt“. Insbesondere in Briefen an Freunde und Verwandte lassen sich sehr persönliche Angaben zu seiner Abstammung und den Eindrücken von der Wolga finden: „Ich stamme von einer deutschen Familie ab – ich bin so erzogen, dass Diebstahl mich bis zum Brechreiz aufregt“, oder: „Ganz in der Nähe befindet sich eine kleine deutsche Kolonie, doch dort sind nach dem Hunger anstelle von sechsundzwanzig nur noch drei Häuser übriggeblieben, die restliche Bevölkerung ist umgekommen.“

Die Fokussierung derartiger Zusammenhänge darf natürlich nicht dazu verleiten, Pil’njaks Werke, die gleichermaßen Reminiszenzen an die wolgadeutsche Thematik aufweisen, der russlanddeutschen Literatur zuzuordnen. Seine geistige Heimat war zweifelsohne Russland, das russische Volk, die russische Sprache und Literatur. Und dennoch würde die Ausklammerung aller wolgadeutschen Bezüge im Leben und Werk des Schriftstellers eine unzulässige Verkürzung darstellen, die viel Interessantes und bisher Unentdecktes im Verborgenen beließe.

Boris Andrejewitsch Pil’njak, geborener Bernhard Wogau, kam am 12. Oktober 1894 als erstes Kind der Eheleute Heinrich (Andrej) Iwanowitsch Wogau (1867-1944) und Olga Iwanowna Sawinowa (1872-1940) zur Welt. Die Mutter gehörte der russischen altgläubigen Kaufmannschaft in Saratow an. Der Vater entstammte einer wolgadeutschen Familie aus Katharinenstadt (Baronsk/Marxstadt). Nach Pil’njaks Angaben wurden die deutschen Großeltern von der Russifizierung kaum erfasst und behielten bis ins 20. Jahrhundert hinein ihren deutschen Charakter bei. Indiz für das Festhalten an deutschen Traditionen ist die Tatsache, dass Pil’njaks Großmutter Anna Andrejewna Wogau (1847-1931) kaum die russische Sprache beherrschte. Der Großvater Johann (Iwan) Karlowitsch Wogau (1845-1890er) war in Katharinenstadt Landwirt, Kaufmann und in der Heimindustrie tätig. Der Wohlstand muss beachtlich gewesen sein, schließlich war es der Familie möglich, ihre drei Söhne zum Studium der Veterinärmedizin nach Dorpat (Tartu) bzw. Halle zu schicken. Und im Gegensatz zu den Eltern identifizierte sich diese Generation, die in die Epoche der sog. Russifizierung und der Aufhebung der Sonderverwaltung der Kolonien (1871) hineingeboren wurde, zunehmend auch mit der russischen Kultur. Ihre Biographien stehen beispielhaft für den Integrations- und Assimilierungsprozess der Wolgadeutschen im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Waldemar (Wladimir) Iwanowitsch Wogau (1870-1933), in Katharinenstadt geboren, absolvierte sein Veterinärstudium in Halle und war anschließend für kurze Zeit in Pommern und Preußen tätig, wo er seine Frau Luiza Langer (1880-1969) kennen lernte. Ab 1911 arbeitete er als Gouverneurs-Zootechniker in Nishnij Nowgorod. Zwar wurde sein Gut nach der Revolution zum Teil enteignet, doch konnte er weiterhin an der Universität unterrichten und blieb als Agronom ein anerkannter Experte für Rinderzucht. Im Zuge der Kollektivierung von 1929 erfolgte jedoch eine nochmalige Enteignung und vom 20. Oktober 1930 bis zum 17. November 1931 sogar die Inhaftierung des Fachmanns. Nach seiner Freilassung infizierte sich Waldemar Wogau auf einer seiner vielen Dienstreisen mit Typhus und verstarb 1933.

Der jüngste Sohn Alexander Iwanowitsch Wogau (1874-?) wurde ebenfalls in Katharinenstadt geboren. Nach seinem Veterinärstudium in Dorpat verbrachte er die 1920er Jahre zusammen mit seiner Frau Leontina in der Heimatstadt. Auch Alexander war in den 1930er Jahren Repressionen ausgesetzt. Er wurde am 13. März 1931 verhaftet und einen Monat später zu einer dreijährigen Verbannung verurteilt. Dass Boris Pil’njak den Kontakt zu seinem Onkel auch in dieser schwierigen Phase aufrecht erhielt, geht aus einem Brief an seine Frau Olga Scherbinowskaja vom 25. April 1932 hervor, in dem er von der Bestellung eines deutschen Veterinärbuches für seinen Onkel berichtet.

Von besonderem Interesse ist natürlich die Biographie des Vaters des Schriftstellers. Heinrich Wogau brach in noch stärkerem Maß als seine Brüder mit den Kolonisten-Traditionen und ging eine Mischehe mit einer russischen Kaufmannstochter ein. Geboren wurde er am 26. August 1867 in Katharinenstadt. Es folgte die Schulbildung in Wolsk und am Gymnasium in Samara, der sich ein Veterinärstudium in Dorpat anschloss. Nach der Heirat mit Olga Sawinowa nahm er laut Gesetz den orthodoxen Glauben an und war als Landschafts-Angestellter in zahlreichen Provinzstädten Russlands tätig. Im Zuge der revolutionären Ereignisse kehrten Pil’njaks Eltern zusammen mit seiner jüngeren Schwester Nina Wogau (1898-1969) im September 1918 an die Wolga zurück. Gelebt haben sie in Saratow, Marxstadt und Pokrowsk (Engels). Zum beruflichen Werdegang des Vaters in der Wolgarepublik lassen sich seine Tätigkeit im Volkskommissariat für Landwirtschaft in Pokrowsk und seine Anstellung ab 1927 in der Pokrowsker „Baconfabrik“ anführen. Doch über sein weiteres Schicksal ist wenig bekannt. Gesichert ist seine Verhaftung am 11. Februar 1931 während des Aufenthalts seines Sohnes in den USA. Gleich seinem jüngeren Bruder Alexander wurde Heinrich Wogau am 30. April 1931 zu einer dreijährigen Verbannung verurteilt. Wo er anschließend beschäftigt und wohnhaft war, ist aus den bisher zugänglichen Quellen nicht zu ermitteln. Im Sommer 1937 besuchte er wohl zum letzten Mal seinen Sohn in Peredelkino. Ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Olga wurde Heinrich Wogau im September 1941 wie alle Wolgadeutschen als 74jähriger Greis alleine nach Kasachstan, in das Gebiet Akmolinsk, deportiert, wo er am 1. Mai 1944 verstarb.

Doch kehren wir zu unbeschwerteren Zeiten zurück, in denen zahlreiche Aufenthalte im Wolgagebiet von Pil’njaks enger Bindung an die elterliche Heimat zeugen. Vor allem die im Sommer 1927 unternommene zweiwöchige Reise zu seinen deutschen „Wurzeln“ (u. a. nach Saratow, Pokrowsk und Marxstadt) bescherte ihm interessante Bekanntschaften mit wolgadeutschen Persönlichkeiten. Wie aus Pil’njaks Brief vom 4. Juni 1927 an seine Frau hervorgeht, schloss er insbesondere mit dem berühmten Sprach- und Kulturforscher Professor Georg Dinges (1891-1932) enge Bekanntschaft. Auf einem eigens für Pil’njak organisierten Literaturabend in Pokrowsk lernten sich beide kennen und entwickelten gegenseitiges Interesse an ihren Arbeiten. Gemeinsam mit dem wolgadeutschen Archäologen Paul Rau (1897-1930) und der österreichischen Journalistin Lotte Schwarz unternahmen sie eine Expeditionsreise in die deutschen Siedlungen entlang der Wolga (Balzer, Doenhof, u. a.).

Unter den wolgadeutschen Siedlern war Boris Pil’njak zu dieser Zeit kein Unbekannter mehr. Bereits 1925 widmete die wolgadeutsche Zeitschrift „Unsere Wirtschaft“ dem „berühmten Landsmann“ mehrere Heftnummern. Und auch in den 1930er Jahren unterhielt Pil’njak Verbindungen zu seiner wolgadeutschen Heimat, indem er beispielsweise als Korrespondent der Zeitung „Izwestija“ an den Feierlichkeiten zum 15jährigen Jubiläum der Wolgarepublik teilnahm.

Die gesammelten Erfahrungen dienten dem Autor zeitlebens als Grundlage für literarische Skizzen und Erzählungen. Neben Werken wie „Mütterchen-feuchte-Erde“ (1924), „An der Oka“ (1927) oder „Die Wolga mündet ins Kaspische Meer“ (1930) sind vier Texte besonders hervorzuheben. Es ist zum einen die Skizze „Hier weht kein russischer Geist – Hier riecht es nicht nach Russland“ (1919), die Pil’njak unter dem Pseudonym Iwan Iwanow veröffentlichte. Gegenstand der Beschreibung ist eine Flussfahrt von Saratow nach Katharinenstadt und die Eindrücke des Verfassers von dem deutschen Alltagsleben in dieser Kolonie. Die Präsentation ist jedoch keinesfalls rein sachlich, vielmehr durch eine distanzierte Wahrnehmung und ein Fremdbild voller Kälte geprägt. Die Besonderheit der Skizze gründet sich auf ihrer Funktion als Wortmaterial für spätere Werke, insbesondere innerhalb der Beschreibung des Kolonistenmilieus: „Um dreiviertel sieben schlägt die Turmuhr der evangelischen Kirche, und die ganze Kolonie sitzt am Tisch, beim Kaffee [...] Um dreiviertel zwölf schlägt die Turmuhr der evangelischen Kirche die Uhrzeit, es schließen alle Abteilungen, alle Komitees, die ganze Kolonie isst zu Mittag und danach – schläft sie, die Läden geschlossen und ausgezogen wie zur Nacht.“

Gemäß seinem charakteristischen Verfahren des Selbstzitats montiert der Autor diese Passagen fast ohne Veränderung in die Erzählung „Die drei Brüder“ (1922) ein. Der in Ich-Form verfasste Text, dessen Titel auf die gleichnamige Hügelkette gegenüber von Katharinenstadt zurückgeht, unterscheidet sich jedoch von der Skizze durch die Verknüpfung mit Pil’njaks Kindheitserinnerungen an die dort verbrachte Zeit bei seiner „lieben Großmutter“ Anna. Zahlreiche Reminiszenzen an die Topographie dieser wolgadeutschen Kolonie, an Verwandte und Episoden aus der Kolonistengeschichte zeugen von der engen Bindung des Schriftstellers an diesen Ort. So führt Pil’njak innerhalb der Aufzählung unterschiedlicher Benennungen der Kolonie einen weiteren Namen an, der in der Zeit der Hungersnot entstanden ist: „Sterbstadt – die Stadt des Todes“. Doch insgesamt erscheint das „Deutsche“ auch in diesem Text, wenn nicht als Fremdbild, so doch als Irritationsmoment der eigenen Identität.

Ganz anders verhält es sich mit der ebenfalls stark autobiographisch geprägten Erzählung „Eine deutsche Geschichte“ (1928), die unter dem Eindruck der Wolgareise von 1927 entstanden ist. Zwar sind deutsche Eigenschaften wie Ordnung, Disziplin und Sauberkeit erneut Gegenstand der kritischen Darstellung, doch überwiegt in diesem Text eine objektive Präsentation des wolgadeutschen Milieus und das Interesse, mehr über diesen Landstrich zu erfahren, sich mit den Bewohnern und ihrer Mentalität zu befassen. Die detaillierten Schilderungen erlauben vielerlei ethnographische Einblicke in das wolgadeutsche Alltagsleben und die wissenschaftliche Tätigkeit der beiden Protagonisten Doktor Paul Rau und Professor Georg Dinges. Der wissenschaftlichen Arbeit der beiden Forscher ist ein Großteil der Erzählung gewidmet – insbesondere ihrer Sammeltätigkeit für das Ethnographische Museum in Pokrowsk, das als Treffpunkt wolgadeutscher Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beschrieben wird. Ein Kapitel schildert die (im Sommer 1927) gemeinsam unternommene Forschungsreise in den Kanton Balzer, auf der dialektologische Studien, Erzähl- und Sachkulturforschung betrieben werden. Hier beschert uns der Autor vielseitige Einblicke in das Leben der deutschen Siedler in den 1920er Jahren.

Und noch ein weiteres Werk ist mit dem erwähnten Selbstzitat verbunden – der Skizzenroman „O.K. Ein amerikanischer Roman“ (1932), in welchem Pil’njak nochmals seine deutsche Großmutter Anna Wogau erwähnt. Das Interesse an der wolgadeutschen Thematik hat den Autor auch in den 1930er Jahren nicht verlassen.

Die Vielfalt der vorgestellten wolgadeutschen Bezüge im Leben und Werk von Boris Pil’njak macht deutlich, dass derartige Referenzen einer breiteren Diskussion bedürfen. Jenseits der stereotypen Gegenüberstellung seiner russischen und deutschen Seiten könnten gerade Aspekte der interethnischen Identität und kultureller Differenz ein lohnendes Forschungsfeld eröffnen. Abschließend bleibt zu betonen, dass zum Einen kaum ein anderer Schriftsteller wolgadeutscher Abstammung (väterlicherseits) einen solch bedeutenden Beitrag zur russischen Literatur geleistet hat wie Boris Pil’njak. Zum Anderen lassen sich in der russischen Literatur kaum derartige Schilderungen wolgadeutschen Lebens wie die Forschungstätigkeit von Paul Rau und Georg Dinges antreffen. Und schließlich steht Pil’njaks Familiengeschichte beispielhaft für die soziale Entwicklung der deutschen liberalen und akademischen Intelligenz, die sich zu einer stark assimilierenden Kraft entwickelte, ohne ihre wolgadeutsche Identität gänzlich aufzugeben. Die russisch-deutschen Welten existierten nicht nur nebeneinander, sondern zeichneten sich durch vielerlei Wechselbeziehungen aus.

Dr. Natalie Kromm
Volk auf dem Weg, 12/2006, S. 36-37.